Vom ersten Laut zum ganzen Satz: Die Sprachentwicklung bei Kindern (0-6 Jahre)

Sprachentwicklung bei Kindern đź‘¶ Alle Meilensteine von 0-6 Jahren âś“ Praktische Tipps âś“ Warnsignale erkennen âś“ Experten-Rat fĂĽr Eltern

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November 17, 2025
Peter Maeder

Inhaltsverzeichnis

Die Magie der ersten Worte und der SchlĂĽssel zur Welt

Die Sprachentwicklung ist eines der faszinierendsten Wunder der frühen Kindheit. Vom ersten Schrei über das erste bewusste "Mama" bis hin zu komplexen Sätzen, mit denen Ihr Kind seine Welt beschreibt – dieser Weg ist ein Meilenstein in der menschlichen Entwicklung.

Sprache ist dabei weit mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Sie ist, wie Fachexperten es treffend formulieren, der "Schlüssel zur Welt". Aktuelle Forschungen, unter anderem von führenden pädagogischen Institutionen wie der Pädagogischen Hochschule Thurgau und dem Marie Meierhofer Institut für das Kind, belegen eindrücklich: Die frühe Sprachbildung ist eine zentrale Voraussetzung für die späteren Bildungs- und Integrationschancen eines Kindes.

Dieser Ratgeber dient Ihnen als umfassender Begleiter auf dieser spannenden Reise. Wir betrachten die Sprachentwicklung bei Kindern nicht isoliert, sondern als einen ganzheitlichen Prozess, der untrennbar mit der motorischen, kognitiven und sozialen Entwicklung verbunden ist.

Gemeinsam beleuchten wir die Meilensteine der Sprachentwicklung von 0 bis 6 Jahren und zeigen Ihnen, wie Sie Ihr Kind im Alltag optimal, spielerisch und ohne Druck fördern können. Wir klären auch auf, welche Anzeichen auf eine Verzögerung hindeuten und wann professionelle Unterstützung durch Kinderärzte oder Logopäden ratsam ist. Dieser Leitfaden stützt sich dabei auf die Erkenntnisse führender Schweizer Institutionen der Entwicklungspädiatrie und Logopädie, wie beispielsweise dem Universitäts-Kinderspital Zürich.

Die Meilensteine der Sprachentwicklung: Eine Reise von 0 bis 6 Jahren

Jedes Kind ist einzigartig. Diese Individualität zeigt sich auch beim Sprechenlernen. Einige Kinder schliessen ihre Sprachentwicklung bereits mit vier Jahren ab, andere erst mit fünf. Dennoch gibt es einen wissenschaftlich fundierten "Fahrplan" mit Meilensteinen, der als verlässliche Orientierung dient. Diese Meilensteine beschreiben, wann die meisten Kinder bestimmte Fähigkeiten im Sprachverständnis (rezeptive Sprache) und im Sprechen (expressive Sprache) erwerben.

Wann fangen Kinder an zu sprechen?

Die meisten Kinder sprechen ihre ersten verständlichen Wörter, wie „Mama“ oder „Papa“, im Alter zwischen 12 und 18 Monaten. Manche beginnen schon mit neun Monaten, andere lassen sich bis zu zweieinhalb Jahre Zeit. Das Sprachverständnis entwickelt sich jedoch schon viel früher.

Die vorsprachliche Phase (0–12 Monate): Kommunikation vor dem ersten Wort

Lange bevor das erste Wort gesprochen wird, beginnt die Sprachentwicklung – nämlich mit dem ersten Schrei. In den ersten Monaten kommuniziert Ihr Baby durch Weinen, Stöhnen und Glucksen.

  • 0–4 Monate: Ihr Kind reagiert auf Geräusche und Stimmen. Es beginnt, selbst Laute zu produzieren, die oft als "Plaudern" oder Gurren bezeichnet werden.
  • 6–9 Monate: Dies ist die Phase der Lallmonologe. Ihr Kind "trainiert" seine Mundmotorik  und bildet erste zweisilbige Lautketten wie „baba“, „dada“ oder „mama“. Diese Laute sind noch nicht gezielt einer Person zugeordnet.
  • 10–12 Monate: Ein entscheidender Sprung im Sprachverständnis (rezeptive Sprache) findet statt. Gegen Ende des ersten Lebensjahres versteht Ihr Kind bereits 50 bis 100 Wörter. Es reagiert auf einfache Aufforderungen wie "Gib mir den Ball!" (oft noch mit Gesten unterstĂĽtzt) und versteht Fragen wie "Wo ist der Papa?". Es nutzt selbst aktiv Gesten wie Winken oder mit dem Zeigefinger zeigen, um zu kommunizieren.
  • Ca. 12 Monate: Das erste gezielte Wort! Ihr Kind sagt nun "Mama" oder "Papa" und meint damit auch Sie.

Die Ein- und Zweiwortphase (12–24 Monate): Die Wortschatzexplosion

Nach dem ersten Geburtstag beginnen Kinder, ihre ersten eigenen Wörter zu sprechen.

  • 12–18 Monate: Der Wortschatz wächst langsam, aber stetig. Mit etwa 18 Monaten nutzen viele Kinder bereits um die 20 Wörter, darunter Nomen, Verben ("essen") und soziale Wörter ("bye bye").
  • 18–24 Monate: Nun folgt die sogenannte "Wortschatzexplosion". Das Kind lernt fast täglich neue Wörter. Der aktive Wortschatz wächst rasant von etwa 50 auf bis zu 200 Wörter an.
  • ‍Ca. 24 Monate: Die Grammatik erwacht. Kinder beginnen, zwei Wörter zu Sätzen zu kombinieren. Diese ersten Sätze sind oft "Telegrammstil" (z. B. "Auto da", "mehr Saft", "Papa weg").

Die Entdeckung der Grammatik (2–3 Jahre): Sätze werden komplexer

Im dritten Lebensjahr wird die Sprache immer differenzierter.

  • Ca. 2–2,5 Jahre: Ihr Kind bildet nun Drei- und Mehrwortsätze. Es beginnt, Verben zu konjugieren (obwohl noch fehlerhaft) und versteht Ortsangaben wie "in" und "auf".
  • ‍Ca. 3 Jahre: Ein Meilenstein ist erreicht. Der Wortschatz umfasst nun oft mehr als 500 Wörter. Das Kind spricht in vollständigen, wenn auch grammatikalisch noch nicht perfekten Sätzen. Es nutzt die Ich-Form ("Ich will") und beginnt, die Welt mit unermĂĽdlichen "Warum?"-Fragen zu entdecken.

Die Festigung (3–4 Jahre): Erweiterung des Sprachwissens

In dieser Phase wird das Fundament gefestigt und ausgebaut.

  • Der Wortschatz wächst weiter auf 1.000 bis 1.500 Wörter.
  • Kinder beginnen, kleine Geschichten ĂĽber Erlebtes zu erzählen.
  • Die Grammatik wird deutlich sicherer. Artikel, Pronomen und Präpositionen werden immer korrekter genutzt. Erste Nebensätze, oft mit "weil" oder "wenn", tauchen auf.

Der Feinschliff (4–6 Jahre): Fit für die Schule

Die Sprachentwicklung ist nun auf der Zielgeraden.

  • Ca. 5 Jahre: Der aktive Wortschatz ist auf 3.000 bis 5.000 Wörter angewachsen; der passive Wortschatz (verstandene Wörter) kann sogar bis zu 14.000 Wörter umfassen.
  • Kinder können komplexe Sätze bilden, Geschichten logisch aufbauen und ihre Sprachmelodie anpassen.
  • Die Aussprache ist fast vollständig entwickelt. Lediglich Zischlaute (wie /s/, /z/, /sch/) oder schwierige Konsonantenverbindungen (wie /kl-/, /dr-/) können noch Schwierigkeiten bereiten. Die Beherrschung aller normgerechten Laute ist oft erst mit etwa sechs Jahren abgeschlossen.

Tabelle 1: Meilensteine der Sprachentwicklung (0-6 Jahre) im Ăśberblick

Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Entwicklungsschritte zusammen. Sie dient als Orientierung, wobei Abweichungen normal sind.

Tabellen Test

Alter

Rezeptive Sprache (Verstehen)

Expressive Sprache (Sprechen)

Aussprache & Grammatik

0-6 Monate

Reagiert auf Stimmen, Geräusche; versteht Tonfall.

Schreien, Gurren, Lachen, "Plaudern" (z.B. "erö").

Erste Lautbildung (vokalähnlich); später p, b, m.

6-12 Monate

Versteht 50-100 Wörter; reagiert auf den eigenen Namen; versteht einfache Bitten (z.B. "Gib mir").

2-silbige Lautketten ("baba"); 4-silbige Laute ("dadadada"). Nutzt Gesten (Winken, Zeigen).

Lallmonologe; imitiert Sprachmelodie.

12-18 Monate

Folgt einfachen Aufforderungen ("Hol den Ball"); zeigt auf 1 benanntes Körperteil.

1. gezieltes Wort (ca. 12 Mon.); 3 Wörter (ca. 15 Mon.); ca. 20 Wörter (ca. 18 Mon.).

Einwortsätze.

18-24 Monate (2 J.)

Erkennt 4 Objekte/Bilder; versteht einfache Anweisungen ohne Gesten.

Wortschatzexplosion; Wortschatz 50-200 Wörter.

Beginn der Grammatik: 2-Wort-Sätze (z.B. "Auto da").

2-3 Jahre (3 J.)

Versteht längere Sätze/Geschichten; versteht Präpositionen "in", "auf", "unter".

Wortschatz >500 Wörter; 4-Wort-Sätze; stellt "Warum?"-Fragen.

Spricht von sich in "Ich"-Form; konjugiert Verben (Präsens).

3-4 Jahre

Versteht komplexere Aufträge; Wortschatz wächst auf 1.000-1.500 Wörter.

Erzählt kleine Geschichten; nutzt Artikel, Pronomen, Präpositionen.

Bildet Nebensätze (z.B. mit "weil"); Aussprache wird deutlicher.

4-6 Jahre (5-6 J.)

Folgt mehrteiligen Aufträgen; versteht abstrakte Begriffe.

Aktiver Wortschatz 3.000-5.000 Wörter; kann komplexe Geschichten erzählen und Zusammenhänge erklären.

Grammatik weitgehend korrekt; alle Laute ausser evtl. Zischlauten (s/sch) beherrscht. Abschluss ca. mit 6 Jahren.

Sprachentwicklung fördern: Wie Sie Ihr Kind im Alltag optimal unterstützen

Die wichtigste Erkenntnis der modernen Pädagogik ist: Die beste Sprachförderung ist "alltagsintegriert". Es geht nicht um formelles "Lernen" oder Übungen, sondern darum, eine anregungsreiche und sprachfreundliche Umgebung zu schaffen, in der das Kind Sprache als etwas Positives und Nützliches erlebt.

Wie kann ich die Sprachentwicklung meines Kindes fördern?

Sie fördern die Sprachentwicklung am besten, indem Sie viel mit Ihrem Kind sprechen, ihm aktiv zuhören und seine Sprechfreude wecken. Begleiten Sie Ihre Handlungen sprachlich, lesen Sie täglich Bilderbücher vor und korrigieren Sie Fehler nicht direkt, sondern wiederholen Sie das Gesagte richtig.

Die effektivsten Methoden fĂĽr den Familienalltag

Sie als Eltern sind die wichtigsten Sprachvorbilder. Die folgenden Methoden sind einfach, hocheffektiv und lassen sich mĂĽhelos in den Alltag integrieren:

1. Aktives Zuhören & Sprechfreude wecken:
Das Fundament jeder Förderung ist Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Reagieren Sie von Anfang an auf die Laute und Gesten Ihres Babys. Zeigen Sie echtes Interesse am Inhalt dessen, was Ihr Kind Ihnen mitteilen möchte, nicht an der korrekten Form. Wenn Sie dem Kind Wertschätzung für seine Sprechversuche entgegenbringen, wird es motiviert, weiter zu kommunizieren.

2. "Parallel Talk" (Sprachbegleitendes Handeln):
Begleiten Sie Ihre eigenen Handlungen und die Handlungen Ihres Kindes sprachlich. Beim Kochen, Anziehen oder Spielen: "Jetzt nehmen wir die rote Jacke." oder "Du baust einen hohen Turm." Das Kind lernt so mühelos die Verbindung zwischen Wörtern und ihrer Bedeutung in der realen Welt.

3. "Recasting" (Korrektives Feedback – Der Gold-Standard):
Dies ist die vielleicht wichtigste Methode im Umgang mit Fehlern. Wenn Ihr Kind einen grammatikalischen oder lautlichen Fehler macht, korrigieren Sie es nicht direkt (z. B. "Das heisst nicht 'gegeht', das heisst 'gegangen'!"). Direkte Korrekturen können demotivieren und die Sprechfreude hemmen. Stattdessen greifen Sie die Aussage auf und wiederholen sie "beiläufig" in der korrekten Form.

  • Kind: "Ich habe Milch trinkt."
  • Eltern: "Ja, du hast deine Milch getrunken. Das ist fein."
    Das Kind hört das richtige Modell, fühlt sich aber in seiner Aussage verstanden und wertgeschätzt.

4. "Expansion" (Erweitern):
Ergänzen Sie die oft kurzen Äusserungen Ihres Kindes.

  • Kind: "Auto."
  • Eltern: "Ja, da fährt ein grosses, blaues Auto."
    Sie bieten damit neues Vokabular und komplexere Satzstrukturen an, ohne das Kind zu ĂĽberfordern.

5. Dialogisches Vorlesen:
Tägliches Vorlesen ist ein enormer Motor für den Wortschatz. Beschränken Sie sich jedoch nicht auf das reine Vorlesen des Textes. Betrachten Sie die Bilderbücher gemeinsam. Stellen Sie Fragen ("Was siehst du da?", "Was macht der Hund wohl als Nächstes?"), lassen Sie Ihr Kind erzählen und schaffen Sie so einen Dialog.

6. Geduld und Zeit (Wait Time):
Sprechen braucht Zeit. Oft neigen Erwachsene dazu, Sprechpausen des Kindes sofort zu füllen. Geben Sie Ihrem Kind bewusst Zeit, seine Gedanken zu formulieren und selbst nach Wörtern zu suchen.

Die Rolle der professionellen Sprachförderung im Kindergarten (Kita)

In qualitativ hochwertigen Kindertagesstätten wird die alltagsintegrierte Sprachförderung professionell und systematisch umgesetzt. Pädagogische Fachpersonen nutzen den gesamten Kita-Alltag als Sprachlernfeld.

Methoden im Kita-Alltag umfassen:

  • Geleitete Erzählkreise, in denen Kinder lernen, zuzuhören und vor einer Gruppe zu sprechen.
  • Lieder, Reime und Singspiele, die Rhythmus, Melodie und Grammatik auf spielerische Weise vermitteln.
  • Rollenspiele (z. B. "Arztpraxis" oder "Supermarkt"), die den Wortschatz in spezifischen Kontexten erweitern und die Kommunikationsfähigkeit trainieren.

Eine Studie der Stadt Zürich hat zudem eindrücklich bestätigt, was viele Eltern intuitiv vermuten: Der Besuch einer Kita fördert die Sprachentwicklung in der Landessprache (Deutsch) im Vergleich zu Kindern ohne Kita-Betreuung signifikant. Dies unterstreicht die wichtige Rolle, die moderne Kitas als Bildungseinrichtungen für die frühe Sprachentwicklung spielen.

Sonderschwerpunkt: Die Vorteile der bilingualen Erziehung

In einer globalisierten Welt und einer multikulturellen Gesellschaft wie der Schweiz ist Mehrsprachigkeit längst kein Ausnahmefall mehr, sondern ein unschätzbarer Vorteil für die Zukunft. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wächst zwei- oder mehrsprachig auf.

Ist zweisprachige Erziehung gut fĂĽr Kinder?

Ja, eine zweisprachige Erziehung bietet erhebliche kognitive Vorteile. Studien belegen, dass bilinguale Kinder oft über eine bessere kognitive Flexibilität, höhere Problemlösefähigkeiten und eine gesteigerte Aufmerksamkeitskontrolle verfügen. Sie lernen zudem oft leichter weitere Sprachen.

Mythen und Fakten der Zweisprachigkeit

Hartnäckig hält sich der Mythos, eine frühe zweisprachige Erziehung würde Kinder "verwirren" oder dazu führen, dass sie "keine Sprache richtig lernen". Die moderne Wissenschaft widerlegt diese veralteten Annahmen klar:

Fakt 1: Das Gehirn ist dafĂĽr gemacht. Das kindliche Gehirn verfĂĽgt im frĂĽhen Alter ĂĽber hocheffektive Spracherwerbsmechanismen, die es ihm erlauben, mehrere Sprachen parallel und spielend leicht zu verinnerlichen.

Fakt 2: "Code-Switching" ist kein Defizit. Wenn zweisprachige Kinder die Sprachen mischen (z. B. "Kann ich bitte more Saft haben?"), ist das kein Zeichen von Verwirrung. Im Gegenteil: Dieses "Code-Switching" ist ein aktiver, intelligenter Prozess und ein Beleg für kognitive Flexibilität.

Fakt 3: Meilensteine werden gleich erreicht. Bilinguale Kinder erreichen die sprachlichen Meilensteine (erste Wörter, Zweiwortsätze) grundsätzlich im selben Alter wie einsprachige Kinder.

Der kognitive Vorteil: Mehr als nur zwei Sprachen

Der grösste Vorteil einer bilingualen Erziehung liegt nicht nur im Beherrschen zweier Sprachen, sondern in der Art und Weise, wie das Gehirn dadurch trainiert wird.

Das ständige Management von zwei aktiven Sprachsystemen im Gehirn erfordert eine hohe "Inhibitionskontrolle" (das bewusste Unterdrücken der gerade nicht benötigten Sprache) und eine ausgeprägte "kognitive Flexibilität" (das schnelle Umschalten zwischen den Systemen).

Dieses permanente "Gehirn-Training" stärkt die sogenannten Exekutivfunktionen – jene übergeordneten kognitiven Fähigkeiten, die für Planung, Problemlösung, Konzentration und Aufmerksamkeitssteuerung verantwortlich sind. Diese gestärkten Fähigkeiten sind nicht auf Sprache beschränkt, sondern übertragen sich positiv auf andere akademische Bereiche und das Lernen im Allgemeinen.

Pädagogischer Deep-Dive: Die Immersionsmethode ("Sprachbad")

Wie aber wird Zweisprachigkeit in einer Kita am effektivsten vermittelt? Die wissenschaftlich fundierteste und erfolgreichste Methode ist die sogenannte Immersion.

Immersion bedeutet "Eintauchen". Es handelt sich dabei nicht um klassischen Sprachunterricht, bei dem Vokabeln und Grammatikregeln gelernt werden.

So funktioniert Immersion in der Kita:

Bei der Immersionsmethode ist die Zielsprache (z. B. Englisch) die alltägliche Arbeits-, Spiel- und Umgangssprache. Die pädagogischen Fachpersonen sprechen konsequent in dieser Sprache, unabhängig von der Aktivität. Die Kinder lernen die Sprache also nicht, sie erwerben sie auf natürliche Weise – durch Singen, Basteln, Spielen und in allen vertrauten Alltagssituationen.

Die Vorteile der Immersionsmethode sind wissenschaftlich belegt:

  1. NatĂĽrlicher Erwerb: Der Prozess ahmt den Erwerb der Muttersprache nach. Kinder entwickeln intuitiv ein GefĂĽhl fĂĽr die Sprachstrukturen.
  2. Kein Leistungsdruck: Da es kein "Unterricht" ist, erfolgt das Lernen kindgerecht, motivierend und macht Spass.
  3. Höhere Kompetenz: Studien zeigen, dass durch Immersion ein deutlich höheres und flüssigeres Sprachniveau erreicht wird als im traditionellen Fremdsprachenunterricht.
  4. Kognitive Förderung: Die oben beschriebenen kognitiven Vorteile (Flexibilität, Konzentration) werden direkt und unmittelbar im Alltag gefördert.

Wenn die Sprachentwicklung Sorgen bereitet: Warnsignale und Intervention

Bei aller Individualität in der Entwicklung gibt es Anzeichen für Verzögerungen, die Sie als Eltern ernst nehmen sollten. Die Früherkennung von Sprachstörungen ist entscheidend, da frühe Interventionen im Vorschulalter die grösste Wirksamkeit zeigen. Rechtzeitige Unterstützung kann die Kommunikationsfähigkeit massiv verbessern und das Selbstvertrauen des Kindes stärken.

Das "Late Talker" Dilemma

Was ist ein 'Late Talker'?

Als "Late Talker" (oder Spätsprecher) bezeichnet man Kinder, die im Alter von 24 Monaten (2 Jahren) einen aktiven Wortschatz von weniger als 50 Wörtern haben und/oder noch keine Zweiwortsätze bilden. Dies betrifft etwa 13-20% aller Zweijährigen.

"Late Talker" (Spätsprecher) vs. "Late Bloomer" (Spätzünder):

Das zentrale Problem für Eltern und Fachleute ist, dass man zum Zeitpunkt der Verzögerung (mit 2 Jahren) einen "Late Bloomer", der die Verzögerung von selbst aufholt, nicht sicher von einem Kind mit einer manifesten Sprachentwicklungsstörung (SES) unterscheiden kann. Diese Unterscheidung ist immer nur rückwirkend möglich.

Die Kritik am "Wait-and-See"-Ansatz (Abwarten und Tee trinken):

Die oft gehörte Empfehlung von Familie oder manchmal auch Fachpersonen, einfach abzuwarten ("Das kommt schon noch", "Jungs sprechen oft später"), ist ein riskanter Ansatz.

  • Das Risiko: Studien zeigen, dass 20-30% der "Late Talker" die Verzögerung nicht von allein aufholen. Sie entwickeln eine behandlungsbedĂĽrftige Sprachentwicklungsstörung.
  • Die Langzeitfolgen: Selbst bei "Late Bloomers", die sprachlich aufholen, zeigen Langzeitstudien, dass sie im Jugendalter immer noch subtile Schwächen in komplexen sprachlichen Fähigkeiten (wie Grammatik, Lesen oder Schreiben) aufweisen können im Vergleich zu Kindern mit typischer Entwicklung.
  • ‍Risikofaktoren: Bestimmte Faktoren erhöhen das Risiko, dass ein Kind ein "Late Talker" ist und bleibt. Dazu gehören: männliches Geschlecht, eine familiäre Vorgeschichte von Sprach- oder Leseschwierigkeiten sowie wiederkehrende oder chronische MittelohrentzĂĽndungen (PaukenergĂĽsse) in der frĂĽhen Kindheit.

Sprachentwicklungsstörungen (SES) verstehen

Wenn eine Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) auch nach dem dritten Lebensjahr fortbesteht, wird sie als Sprachentwicklungsstörung (SES) bezeichnet. Man unterscheidet grob:

  • Rezeptive Störung: Das Kind hat Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen. Dies ist oft schwerer zu erkennen, da die Kinder lernen, sich am Kontext oder der Gestik zu orientieren und so ihr Nicht-Verstehen zu kompensieren. Kinder mit rezeptiven und expressiven Verzögerungen haben das höchste Risiko fĂĽr langanhaltende Probleme.
  • Expressive Störung: Das Kind hat Probleme bei der Wortproduktion, einen eingeschränkten Wortschatz oder Schwierigkeiten mit der Grammatik (Satzbau).
  • Andere Störungen: Dazu zählen auch Auffälligkeiten im Redefluss wie Stottern oder Poltern (ĂĽberhastetes Sprechen) sowie Sprechverweigerung (Mutismus).

Tabelle 2: Checkliste: Warnsignale einer Sprachentwicklungsverzögerung

Diese Checkliste basiert auf klinischen Empfehlungen, wie sie unter anderem von Fachexperten des Universitäts-Kinderspitals Zürich für Kinderärzte zusammengestellt wurden, sowie weiteren logopädischen Richtlinien. Wenn Sie mehrere dieser Punkte bei Ihrem Kind beobachten, ist eine Abklärung ratsam.

Tabellen Test

Alter

Rezeptive Warnsignale (Verstehen)

Expressive Warnsignale (Sprechen)

Soziale/Non-verbale Warnsignale

Ca. 12 Monate

Reagiert nicht oder uneinheitlich auf seinen Namen. Versteht keine einfachen Bitten wie "Komm her".

Plappert nicht oder kaum; keine Lallketten. Nutzt keine Laute, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Nutzt keine Gesten (Winken, Zeigen). Sucht wenig Augenkontakt.

Ca. 18 Monate

Versteht einfache Alltags-Wörter nicht (z.B. "Ball", "Auto"). Zeigt nicht auf Nachfrage auf Körperteile.

Spricht keine 6 Wörter. Spricht deutlich weniger als 20 Wörter.

Imitiert keine Gesten oder Handlungen. Zeigt wenig Interesse an Interaktion.

Ca. 24 Monate (2 J.)

Folgt keinen einfachen, zweistufigen Anweisungen (z.B. "Hol den Ball und gib ihn Papa").

Spricht < 50 Wörter.
Bildet keine 2-Wort-Sätze.

Ăśberwiegend Nomen, kaum Verben. Wenig symbolisches Spiel (z.B. Puppe fĂĽttern).

Ca. 36 Monate (3 J.)

Versteht einfache Geschichten oder "Warum"-Fragen nicht.

Sätze sind sehr kurz (2-3 Wörter) und grammatikalisch stark auffällig. Die Aussprache ist für Fremde oft unverständlich.

Kind wirkt frustriert, zieht sich zurĂĽck. Bricht Interaktion ab.

4-5 Jahre

Versteht keine komplexen Sätze oder Aufträge im Kindergarten.

Anhaltende, massive grammatikalische Fehler (z.B. falsche Wortstellung, fehlende Artikel). Kann viele Laute nicht korrekt bilden.

Kann Erlebtes nicht verständlich berichten.

Der Weg zur Hilfe: Wann und wohin?

Die wichtigste Botschaft ist: Zögern Sie nicht, bei Sorgen professionellen Rat einzuholen. Es ist immer besser, einmal zu viel abzuklären als eine wichtige Entwicklungsphase zu verpassen.

Wann sollte ich mit meinem Kind zum Logopäden?

Suchen Sie Rat, wenn Ihr Kind mit 24 Monaten (2 Jahren) weniger als 50 Wörter spricht oder keine Zweiwortsätze bildet. Spätestens, wenn Ihr Kind mit 3-4 Jahren für Fremde unverständlich spricht, grammatikalisch auffällige Sätze bildet oder selbst unter der Situation leidet, ist eine logopädische Abklärung sinnvoll.

Der Prozess in der Schweiz:

  1. Kinderarzt/Kinderärztin: Ihr erster Ansprechpartner ist immer Ihr Kinderarzt. Er oder sie kennt die Entwicklung Ihres Kindes im Gesamtkontext und kann bei den Vorsorgeuntersuchungen (U-Untersuchungen) eine erste Einschätzung vornehmen.
  2. Ăśberweisung an Fachstellen: Bei begrĂĽndetem Verdacht wird Ihr Kinderarzt Sie an spezialisierte Fachstellen ĂĽberweisen.
  3. Logopädie: Logopädinnen und Logopäden sind die Experten für die Diagnose und Therapie von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen. Sie finden diese in freien Praxen oder angeschlossen an Institutionen (z. B. am Kinderspital Zürich).
  4. Entwicklungspädiatrie: Bei komplexeren Fragestellungen kann auch eine Abklärung in einem Entwicklungspädiatrischen Zentrum (EPZ) sinnvoll sein, das die Sprachentwicklung im Kontext aller anderen Entwicklungsbereiche (Motorik, Kognition, Verhalten) betrachtet.

Informationen bieten auch die Schweizer Berufsverbände für Logopädie wie der Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband (DLV) oder kantonale Verbände (z.B. VZL, ZBL).

Häufige Fragen zur Sprachentwicklung

Hier finden Sie Antworten auf einige der häufigsten Fragen, die Eltern zur Sprachentwicklung haben.

Was zählt eigentlich als "erstes Wort"?

Als "Wort" zählt mehr als nur ein perfekt ausgesprochenes "Mama". Logopäden zählen auch folgende Äusserungen, solange sie konsistent für dieselbe Bedeutung verwendet werden:

  • Vereinfachte Wörter (z. B. "Nana" fĂĽr Banane).
  • Lautmalereien (z. B. "Wauwau" fĂĽr Hund oder "Brumm" fĂĽr Auto).
  • Actionwörter (z. B. "Bumm!", wenn etwas umfällt).

Mein Kind wächst zweisprachig auf und mischt die Sprachen. Ist das normal?

Ja, das ist absolut normal, zu erwarten und kein Grund zur Sorge. Dieses "Code-Switching" ist kein Zeichen von Verwirrung, sondern ein aktiver Prozess, der kognitive Flexibilität zeigt. Zweisprachig aufwachsende Kinder erreichen die sprachlichen Meilensteine (z. B. Zweiwortsätze) in der Regel im gleichen Alter wie einsprachige Kinder.

Verlangsamt die frĂĽhe Kita-Betreuung die Sprachentwicklung?

Im Gegenteil. Die Sorge, eine frühe Fremdbetreuung könnte die Sprachentwicklung hemmen, ist unbegründet. Studien aus der Schweiz (speziell der Stadt Zürich) belegen, dass der Besuch einer qualitativ hochwertigen Kita die Sprachentwicklung in der Landessprache im Vergleich zu Kindern ohne Kita-Betreuung signifikant fördert.

Sollte ich mit meinem Kind "Babysprache" sprechen?

Hier muss man unterscheiden. Im Babyalter (0-12 Monate) ist die sogenannte "Ammensprache" (Parentese) – ein langsames, melodisches, ausdrucksstarkes Sprechen – sehr hilfreich. Sie bindet die Aufmerksamkeit des Babys und signalisiert Zuwendung. Sobald Ihr Kind jedoch selbst zu sprechen beginnt (Kleinkindalter), sollten Sie klare, einfache, aber grammatikalisch korrekte Sprache in ganzen Sätzen verwenden.

Mein 4-jähriges Kind lispelt (kann das /s/ nicht richtig bilden) oder kann das /r/ nicht. Braucht es Logopädie?

In diesem Alter (4-5 Jahre) ist das in der Regel noch kein Grund zur Sorge. Die korrekte Bildung von Zischlauten (s, z, sch) und des /r/ gehört zu den schwierigsten und damit letzten Schritten der Lautentwicklung. Viele Kinder beherrschen diese Laute erst sicher bis zum Schuleintritt (ca. 6 Jahre). Eine logopädische Abklärung ist nur dann sinnvoll, wenn das Kind selbst darunter leidet oder die Probleme bis kurz vor der Einschulung bestehen bleiben.

Abschluss: Die Reise der Sprache ist ein Marathon, kein Sprint

Die Sprachentwicklung bei Kindern ist ein individueller, komplexer und wunderbarer Prozess. Als Eltern ist Ihre wichtigste und schönste Aufgabe, eine liebevolle, geduldige und sprachlich reiche Umgebung zu schaffen.

Geniessen Sie den Dialog mit Ihrem Kind – von den ersten Lauten über die fantasievollen Wortneuschöpfungen bis hin zu den tiefgründigen "Warum"-Fragen, die Sie selbst zum Nachdenken bringen.

Vertrauen Sie auf Ihre elterliche Intuition und Ihr "Bauchgefühl". Wenn Sie Sorgen bezüglich der Sprachentwicklung Ihres Kindes haben, zögern Sie nicht, professionellen Rat bei Ihrem Kinderarzt oder einer logopädischen Fachstelle einzuholen. Frühe Unterstützung ist der beste Weg, um Ihrem Kind den Schlüssel zur Welt vollständig und sicher in die Hand zu geben.

Quellenverzeichnis

  1. Pädagogische Hochschule Thurgau (o.D.): Frühe Sprachbildung für Kinder bis 4. https://phtg.ch/fachstellen-und-unterrichtsmaterialien/produkte-und-materialien/fruehe-sprachbildung-fuer-kinder-bis-4
  2. Universität Hildesheim (2023): Sprachentwicklungsbogen - Krippe und Kindergarten. https://www.uni-hildesheim.de/media/fb1/psychologie/KEA/Dokumente/Material/screeningbogen_neu_sw_2023.pdf
  3. The Hanen Centre (2024): How to tell if Your Child is a Late Talker – and What to Do About It. https://www.hanen.org/information-tips/how-to-tell-if-your-child-is-a-late-talker
  4. TU Dortmund, Institut für Diversitätsstudien (o.D.): Tipps zu Bilingualität. https://div.kuwi.tu-dortmund.de/forschung/psycholinguistics-laboratories/tipps-bilingualitaet/
  5. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie Niedersachsen (2002): Wie Kinder sprechen lernen - Entwicklung und Förderung der Sprache im Elementarbereich. https://soziales.niedersachsen.de/download/57/Wie_Kinder_sprechen_lernen.pdf
  6. Stadt Zürich (2025): «Gut vorbereitet in den Kindergarten» fördert Spracherwerb. https://www.stadt-zuerich.ch/de/aktuell/medienmitteilungen/2025/01/gut-vorbereitet-in-den-kindergarten-foerdert-spracherwerb.html
  7. Hafer, Amelie (o.D.): Bilingualität im Spiegel der kognitiven Vorteile und des sozioökonomischen Status. https://div.kuwi.tu-dortmund.de/storages/div-kuwi/r/Forschung/Psycholinguistics_Laboratories/Studentische_Arbeiten/BA_Hafer-Amelie.pdf
  8. Kuzyk, Olivia; Friend, Margaret; Zesiger, Pascal & Poulin-Dubois, Diane (2020): Are there Cognitive Benefits of Code-switching in Bilingual Children? A longitudinal study. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7413223/
  9. Crivello, Cristina et al. (2016): The effects of bilingual growth on toddlers' executive function. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4346342/
  10. American Speech-Language-Hearing Association (o.D.): Late Language Emergence. https://www.asha.org/practice-portal/clinical-topics/late-language-emergence/
  11. University of Utah Health (2025): Child Not Talking Yet? When to Worry About a Speech Delay. https://healthcare.utah.edu/healthfeed/2025/06/child-not-talking-yet-when-worry-about-speech-delay
  12. Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (o.D.): Logopädie. https://www.szh.ch/themen/fachpersonal/logopaedie
  13. Kinderspital Zürich (o.D.): Logopädie. https://www.kispi.uzh.ch/kinderspital/fachkompetenzen/angebot-fuer-patientinnen-und-patienten/logopaedie
  14. Kinderspital Zürich (o.D.): Entwicklungspädiatrische Poliklinik. https://www.kispi.uzh.ch/kinderspital/fachkompetenzen/angebot-fuer-patientinnen-und-patienten/entwicklungspaediatrie/entwicklungspaediatrische-poliklinik
  15. Verein der Zertifizierten LogopädInnen (o.D.): Über den VZL. https://www.logopaediezug.ch/%C3%BCber-den-vzl
  16. Zentrum fĂĽr kleine Kinder (o.D.): zbl.ch. https://www.zbl.ch/

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